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Die Siedlung Gletsch gehört zur Gemeinde Obergoms VS im Bezirk Goms des Kantons Wallis in der Schweiz. Sie besteht im Wesentlichen aus dem Hotel Glacier du Rhône (Rhonegletscher) und seinen Nebengebäuden, einer Bahnstation und einer ehemaligen Tankstelle. Am Rande der Siedlung steht die 1907/08 erbaute anglikanische Kapelle. Hotelier Josef Seiler erbaute sie nach eigenen Plänen im Auftrag der Anglikanischen Kirche. Von 1942 bis in die 50er-Jahre befand sich in Gletsch ein Wasserkraftwerk.

Gletsch
Staat: Schweiz Schweiz
Kanton: Kanton Wallis Wallis (VS)
Bezirk: Gomsw
Munizipalgemeinde: Obergomsi2w1
Postleitzahl: 3999
Koordinaten:670836 / 157341
Höhe: 1759 m ü. M.
Website: www.oberwald.ch
Karte
Gletsch (Schweiz)
Gletsch (Schweiz)
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Das Hotel Glacier du Rhône um 1870 (Gouache v. Konrad Corradi, 1813–1878).
Das Hotel Glacier du Rhône um 1870 (Gouache v. Konrad Corradi, 1813–1878).
Anglikanische Kapelle und Panorama des Gletschers, ca. 1960
Anglikanische Kapelle und Panorama des Gletschers, ca. 1960
Talboden oberhalb von Gletsch in einer Ansicht von 2005. Oberhalb der Bildmitte das Zehrgebiet des inzwischen stark abgeschmolzenen Rhonegletschers.
Talboden oberhalb von Gletsch in einer Ansicht von 2005. Oberhalb der Bildmitte das Zehrgebiet des inzwischen stark abgeschmolzenen Rhonegletschers.

Gletsch liegt auf einer Höhe von 1759 m unterhalb des Rhonegletschers, an der Verzweigung der 1865 und 1895 gebauten Passstrassen von Oberwald zu den Pässen Furka und Grimsel und wird nur in den Sommermonaten von Juni bis September bewohnt.[1] In den übrigen Monaten ist die Strasse nach Gletsch und zu den Pässen ab Oberwald gesperrt.


Entstehung der Hotelsiedlung


In den 1830er Jahren eröffnete Joseph Anton Zeiter am Fusse des Rhonegletschers ein Gasthaus mit etwa zwölf Betten. Nachdem Alexander Seiler der Ältere (1819–1891) aus Blitzingen bereits in der ersten Hälfte der 1850er Jahre in Zermatt als Hotelier Fuss gefasst hatte, plädierte dessen Bruder Franz (1827–1865) in der Gemeindeversammlung vom 29. Dezember 1857 in Münster für die Überlassung von Boden zwecks Ausbau der Zeiterschen Herberge am Fusse des Rhonegletschers. Am 22. Juni 1858 bestätigte der Walliser Staatsrat die Baupläne, die bis spätestens 1861 zur Ausführung gelangten und die bescheidene Herberge zuerst im Westen um einen grossen dreistöckigen Anbau erweiterten. Die Eröffnung der Passstrasse über die Furka in der zweiten Hälfte der 1860er Jahre erhöhte die Zahl der Reisenden dermassen, dass sich eine zweite Vergrösserung des Haupthauses (von 40 auf 120 Betten) aufdrängte, wie sie wohl in den Jahren 1868 und 1869 erfolgte: auf Bildern des Jahres 1870 erscheint ein gleicher Baukörper symmetrisch im Osten angefügt und an der Stelle der ursprünglichen Baute der 1830er Jahre ein Mittelrisalit. Das Gestaltungselement des Mittelrisalits gelangte hier zum ersten Mal im Walliser Hotelbau zur Anwendung und zwar zwischen zwei symmetrischen dreistöckigen und an der Längsseite mit fünf Fensterachsen versehenen Baukörpern. Der vortretende dreiachsige Mitteltrakt steht an der Stelle des alten Gasthauses.


Blütezeit in der Gründerzeit bzw. der Belle Epoque


Das Hotel hatte seine Blütezeit während der Gründerzeit bzw. der Belle Epoque. In der späteren Belle Epoque bot das Hotel samt Dépendance, dem Blauhaus, unter der Leitung von Joseph Seiler (1858–1929), 320 Gästebetten an, in den 1920er Jahren rund 200 und bis in die 1980er Jahre noch 150. Um 1882 entstand (etwa 500 Meter höher, und eine Stunde Kutschenfahrt Richtung Furkapass entfernt) an der Gletscherflanke neben der künstlichen Eisgrotte, mit Rundblick auf die Walliser und Berner Alpen, das Hotel Belvédère, das in der Belle Epoque ebenso wie das Hotel Glacier du Rhône mehrere Male vergrössert wurde und bis zu 90 Reisende beherbergen konnte.


Funktion und Charakteristik


Gletsch war „Transitstation im Alpenverkehr“, alpine „Karawanserei“ sowie Pferdewechselstation im öffentlichen und privaten Pferdekutschenverkehr. Das Hotel Glacier du Rhône galt als „der vielleicht zeitweise grösste Gasthof der Schweiz“ (Walliser Bote Nr. 67, 1938). Es wurde vor oder nach der Kutschenfahrt (oder Wanderung) über die Pässe, die das Wallis mit den Kantonen Bern und Uri verbinden, genutzt. Eine Fahrt talaufwärts von Brig her, und anschliessend über die Furka, beispielsweise nach Göschenen, wo seit 1882 die Gotthardbahn hielt, dauerte vor der Motorisierung des Strassenverkehrs rund zwölf Stunden (vgl. Karl Baedeker: Die Schweiz, 25. Auflage, Leipzig 1893, S. 110). In der entgegengesetzten Richtung etwa elf, und damit erheblich länger als eine angenehme touristische Tagesreise, was die Einnahme von Mahlzeiten bei mehreren Halten bedingte, sowie mindestens eine Übernachtung auf der Strecke  bevorzugt an einem attraktiven Ort  nahelegte. Zur Bedeutung von Gletsch trugen die Verzweigungen der beiden Passstrassen bei, ebenso wie ein gastgewerbliches Angebot, das auch weitgehenden Ansprüchen (wie jenen des damaligen europäischen Hochadels) genügte, und ganz besonders die in den Reiseführern der Zeit gerühmte Nähe des Gletschers zu Hotel und Strasse: „Nirgends in der Schweiz [konnte] man wie hier mit einem Wagen so nahe an den Rand eines chaotisch zerklüfteten, in seiner Farbwirkung herrlichen Gletschers fahren.“ (Meyers Reisebücher, Schweiz, 20. Auflage, Leipzig und Wien 1908, S. 213.)

Vor dem Glacier du Rhône kurz nach 1900. In der Mitte eine Postkutsche des Kurses Grimsel-Gletsch-Furka, die heute im Stockalperschloss in Brig steht. Damals verliessen an Hochsommertagen vor sieben Uhr morgens regelmässig 80 bis 100 Hotelgäste in Kutschen den Ort in Richtung Brig, Grimsel oder Furka. Es gab Stallungen für 200 Pferde (Gazette du Valais, August 1906 Nr. 97).
Vor dem Glacier du Rhône kurz nach 1900. In der Mitte eine Postkutsche des Kurses Grimsel-Gletsch-Furka, die heute im Stockalperschloss in Brig steht. Damals verliessen an Hochsommertagen vor sieben Uhr morgens regelmässig 80 bis 100 Hotelgäste in Kutschen den Ort in Richtung Brig, Grimsel oder Furka. Es gab Stallungen für 200 Pferde (Gazette du Valais, August 1906 Nr. 97).

Übernahme der Leitung durch Joseph Seiler


Joseph Seiler beschloss 1892, ein Jahr nach dem Tode seines Vaters Alexander, sich Gletsch zu widmen. Der älteste der drei im Hotelgeschäft tätigen Brüder der zweiten Generation war in der Zermatter Hotelwelt seiner Eltern, dem damals wohl grössten gastgewerblichen Unternehmen der Schweiz (vgl. z. B. Neue Zürcher Zeitung vom 24. Juni 1977), aufgewachsen und hatte sich in Rom und London fachlich fortgebildet. Er erweiterte die Hotelsiedlung während der Belle Epoque stetig, schuf mit bedeutenden Walliser Möbeln des 17. und 18. Jahrhunderts, deren Wert in der Region noch kaum erkannt wurde, und anderen Antiquitäten, insbesondere auch historischen Bildzeugnissen des Gletschers und der Gegend, teilweise nach englischen Kompositionsprinzipien ein aussergewöhnliches Hotelinterieur, das dem Geschmack seiner internationalen Klientel entsprach, und gab dem Betrieb insgesamt eine überragende Reputation.

Das Glacier du Rhône galt als „ausgezeichnet geleitetes“ Hotel „in grossartiger Lage“. „In diesem [fand] bei höchst vornehmer internationaler Gesellschaft, die in ein-, zwei- und dreispännigen Wagen herbeiströmt[e], auch der Tourist Berücksichtigung“. (Karl Kinzel: Wie reist man in der Schweiz?, Schwerin 1913, S. 89).

In den 1920er Jahren waren die Ansprüche Reisender, die an der Passstrassenverzweigung Halt machten, teils höher als in jedem heutigen Schweizer Hotel: man wird „von Kellnern im Frack bedient, isst das Menu eines Grand Hotels und hat als Tischgenossen Gentlimen im Smoking und Ladies in tiefster Ausgeschnittenheit“. (Hans Schmid, in: St. Jodern-Kalender: Gletsch, Sitten 1928).

Da Joseph Seiler um die Bedeutung seines Hotels als Relais und Pferdewechselstation wusste, sah er den Bau der Brig-Furka-Disentis-Bahn vor dem Ersten Weltkrieg nicht ohne Bedenken. Er stellte, im Gegenzug für die Überlassung von Land für die Bahntrasse, die Forderung, die Züge zur Mittagszeit eine Stunde in Gletsch halten zu lassen, um die Passagiere zur Einnahme einer Mahlzeit zu bewegen. Die abendlichen Züge endeten in Gletsch, um die Anzahl der Übernachtungen zu erhöhen. So versuchte er der Bahn den Rhythmus einer Reise mit Pferdekutschen aufzuerlegen.


Entwicklung nach dem Ersten Weltkrieg


Während des Ersten Weltkrieges und in den darauffolgenden Krisenjahren bedurfte Joseph Seiler der finanziellen Unterstützung seiner beiden Brüder Alexander dem Jüngeren (1864–1920) und Hermann (1876–1961), die sich nach dem Tode der Eltern dem Zermatter Unternehmen angeschlossen hatten. Mitte der 1920er Jahre übernahm schliesslich Hermann Seiler aus familialer Solidarität die Betriebe in Gletsch ganz, sein Bruder Joseph blieb aber Leiter der Betriebe bis zu seinem Tode im Jahre 1929.


Seit 1929 neu geschaffene und erweiterte Attraktionen


Eduard Seiler, seit dem Hinschied seines Onkels Joseph Geschäftsleiter in Gletsch, lancierte innovative und teils schweizweit einzigartige Angebote, so über Jahrzehnte sogenannte Nationale Gletschersternfahrten und Auto-Ski-Meetings, die ein Publikum in der ganzen Schweiz ansprachen[2], eine den Hotels angeschlossene Bergschule mit fest verpflichteten Bergführern von Juli bis September[3], Skitouren auf dem hoteleigenen Rhonegletscher und dem Muttbachgletscher bis tief in den Sommer[4], geführte Besichtigungen der hoteleigenen von Eduard Seiler Jahr für Jahr ergänzten Antiquitätensammlung[5], nach dem Dinner regelmässige Fahrten mit eleganten Wagen zum von der Hotelgesellschaft beleuchteten Abbruch des hoteleigenen Rhonegletschers[6], Besichtigungen der Grimselstauwerke[7], mannigfache andere Ausflüge und Kletterpartien[8]. Die Möglichkeit, die Mahlzeiten in den beiden Hotels bzw. Restaurants nach Wahl einzunehmen, wurde ausgeprägt.[9] Es gab in der Zwischenkriegszeit einen hoteleigenen Mietwagenservice, mit dem Autofahrten in alle Richtungen unternommen werden konnten, ebenso einen Taxidienst zur Rhonequelle.[10] Jahrzehntelang verfügte das Haus im Talgrund, wie damals die meisten anderen Seiler Hotels, über ein eigenes Orchester, zudem wurde in den 1930er Jahren ein Dancing eingerichtet.[11]

Das von Hermann und Eduard Seiler erstrittene Bundesgerichtsurteil vom 29. Januar 1936 erlaubte die Verwirklichung einer neuen Anlage zum Zwecke der eigenen Elektrizitätsproduktion. Es wurden Turbinen in den Kutschenremisen installiert[12] und eine Hochdruckwasserleitung von diesen bis zum hoteleigenen Totensee auf der Grimsel gebaut.[13] Das hauseigene Elektrizitätswerk ermöglichte nunmehr eine weit umfassendere nächtliche Beleuchtung von Teilen des Rhonegletschers und der Hotelfassaden.


Höhepunkt der Reputation des Hotels in den 1930er und 1940er Jahren: Angehörige des Hochadels als jährlich wiederkehrende Stammgäste


Von 1938 bis 1945 wählte Fürstin Elsa von Liechtenstein (1875-1947), Gattin von Fürst Franz I., zusammen mit Duarte de Bragança (1907-1976), Herzog von Braganza und portugiesischer Thronprätendent, und dessen Gemahlin, Marie Françoise (1914-1968), Prinzessin von Orléans und Braganza, sowie weiteren fürstlichen Verwandten das Hotel jeden Sommer für mehrere Wochen als Ort der Sommerfrische. Sie unternahmen von hier aus regelmässig Automobilexkursionen in alle Richtungen. In den Jahren 1942 bis 1944 schloss sich Adelgonde de Bourbon et Bragança (1858-1946), eine Tochter von König Michael I. von Portugal, ihren Verwandten an. Im August 1944 besuchte Prinz Alois von Liechtenstein (1869-1955) während mehrerer Tage seine Verwandten in Gletsch.[14]


Ausrichtung des Angebots auf Reisende aller Bevölkerungsschichten


Hinsichtlich des nach Anspruchshöhe der Passanten umfassenden gastgewerblichen Angebots stand die Hotelsiedlung in der Tradition der Berghospize, in denen Könige wie Pilger und Bettler Gastung fanden. So wurden beispielsweise im Jahre 1956 die günstigsten Einzelzimmer in der Dependance Blaues Haus für 5 CHF (inflationbereinigt im Jahre 2022: ca. 22 CHF) angeboten.[15] Daneben gab es im gleichen Haus Massenlager (z.B. für Pfadfindergruppen) zu noch deutlich tieferen Preisen. Dies entsprach der an diesem Ort üblichen Preispolitik der Familie Seiler bis 1984.

Das gleiche galt für die stark diversifizierte und umfangreiche Restauration, welche in Gletsch bis 1984 sieben verschiedene Teilbetriebe umfasste: Im Westen des Hauptgebäudes das Café Valaisan mit kleinem Strassenrestaurant vor dem Eingangsbereich (beides mit Bistro-ähnlichem Angebot)[16]; die felsseitig dahinter liegende nur abends geöffnete rustikal eingerichtete Walliserstube (mit Carnozet-Charakter), als Alternative zum förmlichen Grand Restaurant für Hotelgäste jeglicher Anspruchshöhe[17]; das Grand Restaurant im Osttrakt, welches hinsichtlich des Angebots mittags mit den Bahnhofbuffets erster Klasse in grossen Schweizer Städten vergleichbar war und abends mit den Speisesälen von traditionsreichen Schweizer Erstklasshäusern (hier speiste man in gediegenem Ambiente vornehmlich mehrgängige Menus, der Service war klassisch)[18]; das Buffet Express im grossen verandaartigen Anbau ganz im Osten des Gebäudekomplexes (ein Schnellimbiss im Stil der 1960er Jahre für eilige Tagesgäste, mit einem einfachen Angebot von Pastagerichten und Kalten Tellern)[19]; die Terrasse davor (mit blossem Getränkeservice)[20]; der Take Away auf der Terrasse vor dem Buffet Express (mit Bier-, Mineralwasser- und Sandwichangebot). Im Grand Restaurant wurde in den 1970er und 1980er Jahren regelmässig rund 1/4 des Gesamtumsatzes des Food and Beverage-Breichs erzielt. 3/4 des Umsatzes generierten die anderen sechs Teilbetriebe, welche auf Gäste jeglicher Anspruchshöhe (darunter eine grosse Zahl von Passwanderern, Autostoppern, Fahrrad- und Motorfahrradtouristen wie auch Busreisenden, Bus- und Lastwagenchauffeuren) ausgerichtet waren.[21]


Elektrizitätswirtschaftliche Entwicklung in Gletsch


Joseph Seiler, seit 1893 Geschäftsleiter in Gletsch, liess im Untergeschoss der Dependance ‚Blaues Haus‘ vor der Jahrhundertwende ein Kleinwasserkraftwerk einrichten, wohl das erste östlich von Brig. Herstellerin war die Theodore Bell AG in Kriens. Der Hotelier beleuchtete damit die Gemeinschaftsräume und die Fassaden beider der Hotels sowie den Gletscherbruch des Rhonegletschers. In den 1940er Jahren baute Eduard Seiler ein neues Kleinwasserkraftwerk in den Kutschenremisen von Gletsch. Es bestand aus einer Pelton-Turbine von Sulzer Escher Wyss und einem Generator von Brown, Boveri & Cie. Voraussetzung dafür war das von der Familie Seiler erstrittene Bundesgerichtsurteil vom 29. Januar 1936. Die neuen Turbinen setzten den Bau einer ca. 300 Meter langen Hochdruckwasserleitung vom zum Eigentum der Hotelgesellschaft gehörigen Totensee auf der Grimsel voraus. Das neue Elektrizitätswerk in den ehemaligen Remisen erlaubte eine weit umfassendere nächtliche Beleuchtung von Teilen des Rhonegletschers und der Hotelfassaden als vorher. Vor allem aber konnten nun Dörfer des Obergoms von der Hotelgesellschaft erstmals mit Industriestrom versorgt werden, was einen damals wichtigen Entwicklungsimpuls für die Region darstellte. Ende der 1940er Jahre wurde der hoteleigene Totensee in den Grimselsee abgeleitet und die Stromproduktion den Kraftwerken Oberhasli (KWO) übertragen, die Hotelgesellschaft baute zusammen mit den KWO aber die 16'000 Volt-Stromleitungen und unterhielt diese ganzjährig. Sie verkaufte in erheblichem Umfang weiter Strom ins Goms. Die Erträge standen dem Hotelbetrieb zur Verfügung. Dies dürfte eines der frühesten derartigen elektrizitätswirtschaftlichen Projekte einer Hotelgesellschaft gewesen sein, welches auf eine mise en valeur bestehender Landressourcen mit einer zwölfmonatigen Wertschöpfung zielte. Jahrzehnte später wurde der Begriff ‚Umwegrentabilität‘ in weiten Teilen der traditionellen Schweizer Hotellerie, die über Landressourcen verfügte, zum unternehmensstrategischen Schlagwort.[22]


Beschränkung der Wertschöpfung in Gletsch auf rund 100 Sommertage als Problem – hotelbetriebswirtschaftliche Analyse im Kreis der Familie Seiler


Hermann Seiler hatte das Walliser Finanzdepartement durch den Ersten Weltkrieg geführt und sich als Zentralpräsident des Schweizer Hoteliervereins in der Krise zwischen den Weltkriegen und während des Zweiten Weltkrieges besonders mit Fragen der Hotelrentabilität und -finanzierung beschäftigt. Die hotelbetriebswirtschaftlichen Implikationen einer auf die Sommersaison beschränkten Wertschöpfungsphase von drei bis vier Monaten wurden von ihm mit Besorgnis bedacht. Einen Reflex der Gespräche über Fragen der Rentabilität betriebszeitlich beschränkter Hotelunternehmen nach dem Ende des ‚Goldenen Zeitalters‘ der Schweizer Hotellerie stellt der Aufsatz des Berner Ordinarius für Betriebswirtschaftslehre, Alfred Walther, unter dem Titel „Die festen Kosten – der Feind des Hotelunternehmens“ in der Festschrift des Schweizer Fremdenverkehrsverbandes dar, die Seiler als Vizepräsident des von ihm 1932 mitinitiierten Dachverbandes des Schweizer Tourismus im Jahre 1946 zum 70. Geburtstag gewidmet wurde. Franz Seiler, Neffe Hermanns und ebenfalls promovierter Jurist sowie 1945–1965 sein Nachfolger als Zentralpräsident des Hoteliervereins wie auch an der Spitze der Zermatter Seiler Hotels, wirkte 1926–1946 als Direktor der Schweizerischen Hotel-Treuhand-Gesellschaft, des damaligen Schweizer Kompetenzzentrums für Fragen der Hotelfinanzierung und Rentabilität. Eduard Seiler, seit 1929 an der Geschäftsleitung in Gletsch beteiligt, Vizepräsident und Verwaltungsratsdelegierter der Seiler Hotels Zermatt, war promovierter Staatswissenschafter mit finanzpolitischem Wirkungsfeld. So bildeten die hotellerienahen Angehörigen der Familie eine eigentliche groupe de réflexion zu Fragen des Wandels der Kostenkonstellation und Rentabilität im Schweizer Gastgewerbe. Eduard Seiler resümierte die betriebswirtschaftliche Analyse der Familie Seiler im Walliser Boten vom 15. Juli 1964 (Nr. 80, S. 1f.): „Nun steht aber als Regel fest, dass unter den jetzigen Kostenverhältnissen und Reisegewohnheiten neue Einsätze von Kapital und Arbeitskräften für den alpinen Fremdenverkehr sich nur dann noch lohnen, wenn auf eine auskömmliche Wintersaison abgestellt werden kann.“

Diese Einschätzung wurde in den folgenden Jahrzehnten mit Blick auf die gesamte Schweizer Hotellerie bestätigt: Aus der Warte der auf die Finanzierung von Sanierungsprojekten im Tourismusbereich spezialisierten Finanzfachleute der grössten Schweizer Bank galt in den 1990er Jahren bereits eine Betriebszeit von sieben bis acht Monaten – nicht erst von nur drei bis vier, wie in Gletsch unbestrittenermassen witterungsbedingt höchstens möglich – als kritisches Minimum für eine Hotelbetriebsführung, welche die Deckung der Jahresfixkosten erlaubt (so Jürg Lamparter, Leiter Sanierungsprojekte im Tourismusbereich der UBS AG, laut Finanz und Wirtschaft, 30. September 1998, Nr. 75, S. 25). Im Jahre 2006, also 42 Jahre nach der Aussage Eduard Seilers im Walliser Boten, wurde der hotelbetriebswirtschaftliche Stand der Erkenntnisse zu dieser Frage in der NZZ resümiert. Dr. Andreas Deuber, damals Direktor der Schweizerischen Gesellschaft für Hotelkredit und in der Folge Leiter des Instituts für Tourismus und Freizeit ITF der Hochschule für Technik und Wirtschaft HTW Chur, hielt in der Ausgabe vom 5. Mai 2006 (Nr. 103, S. 17) fest: „Hat das klassische Hotel vor diesem Hintergrund ausgedient? [...] Matchentscheidend ist ein Standort mit einer guten Grundauslastung über das ganze Jahr oder zumindest zwei starke Saisons hinweg.“

Im Trogtal von Gletsch ist eine Wintersaison wegen der Lawinengefährdung sowohl der Zufahrtswege wie des Tales wie auch wegen der mangelnden Eignung der gerölldurchsetzten Hänge für den Skisport nicht möglich. Das stand für Hermann Seiler seit der Belle Époque fest und wurde bis heute nicht widerlegt.[23]


Gründe für den Verkauf der Hotels als Teil der Immobilien Gletsch AG an den Kanton Wallis


Gletsch, talwärts gesehen (2005). In der Mitte die Strasse nach Brig, links die Furka- und rechts die Grimselstrasse. Der Steg über die Rhone im Mittelgrund verbindet das Bahnhofsgebäude mit den Geleisen. Links im Hintergrund die Bahnremise.
Gletsch, talwärts gesehen (2005). In der Mitte die Strasse nach Brig, links die Furka- und rechts die Grimselstrasse. Der Steg über die Rhone im Mittelgrund verbindet das Bahnhofsgebäude mit den Geleisen. Links im Hintergrund die Bahnremise.
Ortseingang von Gletsch am Bahnübergang der Furkastrasse. Das markante Gebäude rechts (genannt “Blaues Haus”) dient heute als Unterkunft für die Mitarbeitenden der Dampfbahn Furka-Bergstrecke
Ortseingang von Gletsch am Bahnübergang der Furkastrasse. Das markante Gebäude rechts (genannt “Blaues Haus”) dient heute als Unterkunft für die Mitarbeitenden der Dampfbahn Furka-Bergstrecke

Aus diesem Grunde nannte der 80jährige Hermann Seiler die Aktiengesellschaft, in die er die beiden Hotels samt Liegenschaften 1956 einbrachte, nicht Hotels Seiler Gletsch AG, sondern, mit Blick auf eine nichtgastgewerbliche Verwendung, Immobilien Gletsch AG.[24] Zur Frage stand Mitte des Jahrhunderts, ob die öffentliche Hand die seit den 1930er Jahren von Hermann Seiler erweiterte wasserwirtschaftliche Nutzung mit einem grossen Projekt im Talbecken von Gletsch, einem Stausee, fortführen wollte.

So wurde der Hotelbetrieb in der Tradition der Schweizer Grande Hôtellerie an diesem Ort im Jahre 1984 in erster Linie aufgrund der lage- und witterungsbedingten Beschränkung der Betriebszeit auf dreieinhalb Sommermonate aufgegeben.[25] Der Betrieb hatte in den 1970er Jahren 80 und zuletzt noch fünf Dutzend Mitarbeitende, von denen ein Großteil fünf und mehr Saisons, die qualifiziertesten mehrere Jahrzehnte Jahr für Jahr mit einem neuen Vertrag nach Gletsch zurückkehrten – selbst in Zeiten extremer gastgewerblicher Personalknappheit in der Schweiz.

Ein weiterer Grund waren die reisekulturellen Veränderungen, welche mit dem Ende der Pferdekutschenzeit und der Motorisierung des Passverkehrs um 1920 begonnen hatten und mit dem Ausbau der Strassen insbesondere seit den 1960er Jahren, der Zunahme von Reisegeschwindigkeit (um einen Faktor 7–8 in sechs Jahrzehnten) und Durchgangsverkehr (um, in Spitzenzeiten, schätzungsweise einen Faktor 100–200) unmittelbar vor dem Hotel sich rapid fortsetzten, der Rückzug des Gletschers, aber auch die Abnahme der landschaftlichen Attraktivität des Talkessels insgesamt – all dies ideell verbunden mit dem Verblassen des hallerschen, rousseauschen, romantischen und victorianischen reisekulturgeschichtlichen Topos der Schweizerfahrt oder Swiss tour in den Alpen bei teilweise sehr anspruchsvollen Gästen.


Entwicklung nach 1984


Seitens der neuen Eigentümerschaft, dem Kanton Wallis, standen bis zur zweiten Hälfte der 1980er Jahre rechtliche, landschaftliche und wasserwirtschaftliche Betrachtungsweisen und Interessen im Vordergrund. Das gastgewerbliche Angebot sollte in stark vereinfachter Form mit einem Pächter und einigen wenigen Mitarbeitenden vorläufig weitergeführt werden unter „Abkehr vom Seilerschen Hotel-Stil“ und unter Ausrichtung auf einen „Volkstourismus“ (Walliser Bote vom 2.10.1984, Nr. 229, S. 10; entsprechend: Valais Demain vom 12.10.1984, Nr. 35, S. 3). In der zweiten Hälfte der 1980er Jahre wurden die seit den 1950er Jahren verfolgten Projekte, das Tal durch eine Staumauer abzuriegeln und einen Rhonestausee zu bilden, verworfen.

Daraufhin tätigten die neuen Eigentümer umfangreiche Investitionen in die gastgewerblichen Betriebe; heute existiert ein saisonaler Hotelbetrieb ohne Kategorisierung während der Sommermonate.


Bahnhof, Eisenbahn und Postauto


Neben dem Hotel mit seinen Nebengebäuden ist in Gletsch der Bahnhof der Dampfbahn Furka-Bergstrecke (bis 1981 Teil der Furka-Oberalp-Bahn) zu finden. Die Schienenverbindung wurde 1915 hergestellt, der Betrieb wurde aber 1981 mit Einstellung der Bahnlinie über die Furka-Scheitelstrecke aufgegeben. Seit 1982 besteht der Furka-Basistunnel, der eine unterbrechungsfreie Verbindung vom Wallis in das Gotthard-Gebiet ermöglicht. Die letzte Station vor dem Tunnel ist Oberwald, Gletsch ist daher keine Station dieser Zugverbindung mehr. Dafür wurde seit den 1990er Jahren etappenweise die Dampfbahn-Furka-Bergstrecke Realp–Gletsch-Oberwald wiedereröffnet. Seit 2011 ist die Strecke wieder durchgehend befahrbar. Somit ist die Bahnstation während der Sommermonate wieder in Betrieb. Seit 1922 ist Gletsch auch mit Postautolinien erschlossen.


Sehenswürdigkeiten



Fehlinformationen über ein angebliches Darlehen des Kantons an die Familie Seiler


Aufgrund einer Reportage der Neuen Zürcher Zeitung (NZZ) über das Hotel Belvédère, welches bis 1984 ebenfalls im Eigentum der Familie Seiler stand, ist im Sommer 2022 die Fehlinformation in Umlauf gelangt, der Kanton Wallis habe der Familie bzw. der Immobilien Gletsch AG im Eigentum der Familie Seiler ein namhaftes Darlehen gewährt. Dieses habe beim Verkauf an den Kanton eine Rolle gespielt. Das Departement für Finanzen und Energie des Kantons Wallis und in der Folge auch die NZZ haben diesen Irrtum richtiggestellt: Ein solches Darlehen hat es nie gegeben. Die Publikation des Korrigendums erfolgte in der NZZ vom 7. September 2022, S. 18. Die NZZ hat dort auch die Familie Seiler um Entschuldigung gebeten. Die Stellvertretende Kantonsarchitektin des Kantons Wallis, Rita Wagner, hat den Sachverhalt in einem Interview mit dem Walliser Boten erwähnt. Die diesbezügliche Richtigstellung erfolgte im Walliser Boten vom 19. August 2022, Nr. 190, S. 8f. Der Kanton Wallis kaufte das Unternehmen 1984 schuldenfrei. In Anbetracht der eingeschränkten Wertschöpfungsphase kamen für die Familie Seiler Darlehen gar nicht in Frage. Das Unternehmen wurde bis am Tage des Verkaufs ausschliesslich auf Eigenkapitalbasis geführt.[26]


Literatur




Commons: Gletsch – Sammlung von Bildern, Videos und Audiodateien

Einzelnachweise


  1. Rachel Siggen-Brutin: Gletsch. In: Historisches Lexikon der Schweiz. 5. Januar 2017, abgerufen am 1. April 2021.
  2. Ein Bericht aus Anlass des 20-jährigen Jubiläums in der NZZ vom 5. Juli 1952 (Morgenausgabe 1478, Bl. 4); weitere Literatur der 1930er und 1940er Jahre dazu: Walliser Nachrichten vom 16. April 1934, Nr. 44, S. 2; Auto, Organe officiel de l' Automobile-Club de Suisse, 1934, Nr. 12, S. 12 ff.; Auto, Organe officiel de l' Automobile-Club de Suisse, 1936, Nr. 12, S. 13; Automobil-Revue vom 30. Juni 1936, Nr. 53, S. 6; Auto, Organe officiel de l' Automobile-Club de Suisse, 1947, Nr. 14, S. 34; Walliser Nachrichten vom 4. Juli 1947, Nr. 53, Blatt 2; Mark Andreas Seiler: Ein Gletscher – ein Hotel – eine Familie. Horizonte einer Walliser Hoteliersdynastie, Visp 2012, S. 377.
  3. Mark Andreas Seiler: Ein Gletscher – ein Hotel – eine Familie. Horizonte einer Walliser Hoteliersdynastie, Visp 2012, S. 377.
  4. Mark Andreas Seiler: Ein Gletscher – ein Hotel – eine Familie. Horizonte einer Walliser Hoteliersdynastie, Visp 2012, S. 376.
  5. Mark Andreas Seiler: Ein Gletscher – ein Hotel – eine Familie. Horizonte einer Walliser Hoteliersdynastie, Visp 2012, S. 376; Walter Ruppen: Das Obergoms: die ehemalige Grosspfarrei Münster. Die Kunstdenkmäler der Schweiz Bd. 64. Basel 1976, S. 151 ff. (kunsthistorisches Inventar).
  6. Mark Andreas Seiler: Ein Gletscher – ein Hotel – eine Familie. Horizonte einer Walliser Hoteliersdynastie, Visp 2012, S. 376.
  7. Mark Andreas Seiler: Ein Gletscher – ein Hotel – eine Familie. Horizonte einer Walliser Hoteliersdynastie, Visp 2012, S. 376.
  8. Mark Andreas Seiler: Ein Gletscher – ein Hotel – eine Familie. Horizonte einer Walliser Hoteliersdynastie, Visp 2012, S. 376ff.
  9. Mark Andreas Seiler: Ein Gletscher – ein Hotel – eine Familie. Horizonte einer Walliser Hoteliersdynastie, Visp 2012, S. 376.
  10. Mark Andreas Seiler: Ein Gletscher – ein Hotel – eine Familie. Horizonte einer Walliser Hoteliersdynastie, Visp 2012, S. 376.
  11. Mark Andreas Seiler: Ein Gletscher – ein Hotel – eine Familie. Horizonte einer Walliser Hoteliersdynastie, Visp 2012, S. 376.
  12. Mark Andreas Seiler: Ein Gletscher – ein Hotel – eine Familie. Horizonte einer Walliser Hoteliersdynastie, Visp 2012, S. 152f.
  13. Ausführlich dazu: Walliser Bote vom 5. Juni 1984, Nr. 130, S. 6.
  14. Mark Andreas Seiler: Ein Gletscher – ein Hotel – eine Familie. Horizonte einer Walliser Hoteliersdynastie, Visp 2012, S. 180 und 358; Nouvelliste Valaisan vom 10. August 1945, Nr. 185, S. 3.
  15. Schweizer Hotelführer des Jahres 1956/57.
  16. Mark Andreas Seiler: Ein Gletscher – ein Hotel – eine Familie. Horizonte einer Walliser Hoteliersdynastie, Visp 2012, S. 156ff. und S. 357
  17. Mark Andreas Seiler: Ein Gletscher – ein Hotel – eine Familie. Horizonte einer Walliser Hoteliersdynastie, Visp 2012, S. 160ff.
  18. Mark Andreas Seiler: Ein Gletscher – ein Hotel – eine Familie. Horizonte einer Walliser Hoteliersdynastie, Visp 2012, S. 92ff. und S. 361f.
  19. Mark Andreas Seiler: Ein Gletscher – ein Hotel – eine Familie. Horizonte einer Walliser Hoteliersdynastie, Visp 2012, S. 172 ganz rechts im Bild.
  20. Vgl. die Abbildung hier rechts.
  21. Gemäss Ausweis innerbetrieblicher Statistiken im Archiv der Familie Dr. Eduard Seiler, Zürich.
  22. Hierzu ausführlich Walliser Bote vom 5. Juni 1984, Nr. 130, S. 6.
  23. Ausführlich: Mark Andreas Seiler: Ein Gletscher – ein Hotel – eine Familie. Horizonte einer Walliser Hoteliersdynastie, Visp 2012, S. 178.
  24. Vgl. Weltwoche vom 6.12.1984, Nr. 49, S. 55: "Schon in den fünfziger Jahren hatte Hermann Seiler, der Vater der zehn Geschwister, erkannt: Die Zukunft [von Gletsch] liegt nicht im Tourismus [...]."
  25. Vgl. Weltwoche vom 6.12.1984, Nr. 49, S. 55: "Geben Sie uns eine Wintersaison, sagen die Geschwister Seiler, dann machen wir weiter."
  26. Walliser Bote vom 19. August 2022, Nr. 190, S. 9.



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